Schädigungsmechanische Ansätze zur gezielten Einstellung und effizienten Nutzung der Zähigkeitseigenschaften von hochsiliziumhaltigem Gusseisen mit Kugelgraphit
Ein Projekt der Industriellen Gemeinschaftsforschung: IGF 20290 N
Forschungseinrichtungen:
- RWTH Aachen Lehrstuhl für das Gesamte Gießereiwesen und Gießerei-Institut
- RWTH Aachen Lehr- und Forschungsgebiet für Werkstoff- und Bauteilintegrität
Laufzeit: 01.10.2018 bis 30.06.2021
Schädigungsmechanik - Effiziente Prüfung und Nutzung der Zähigkeitseigenschaften von GJS
Von Daniel Franzen, Niloufar Habibi, Markus Könemann, Sebastian Münstermann und Andreas Bühring-Polaczek, Aachen
Erschienen in GIESSEREI 12/2021
Aktuellen Untersuchungen zufolge weicht die Werkstoffbeanspruchung von Gusseisen mit Kugelgrafit (GJS) bei der Kerbschlagbiege-Prüfung in der Weise deutlich von der Beanspruchung im Bauteileinsatz ab, dass die Zähigkeitseigenschaften unterschätzt werden. Dies kann eine ineffiziente Bauteilauslegung und das Verschenken von Leichtbaupotenzialen bedeuten. Umfassende experimentelle und numerische Analysen sollen das Wissen um die äußeren Einflüsse auf die Zähigkeitseigenschaften von GJS vertiefen und dazu beitragen, bestehende Werkstoffpotenziale voll auszuschöpfen.
Der Kerbschlagbiegeversuch nach Charpy ist aufgrund seiner geringen Kosten und einfachen Umsetzbarkeit die industriell bevorzugte Prüfmethode zur Bestimmung der Zähigkeitseigenschaften unterschiedlicher Werkstoffe [1]. Für GJS-Gusskomponenten in Windenergie- oder Automobilanwendungen ist über dieses Verfahren eine erfolgreiche Qualifizierung für eine Vielzahl von potenziellen Einsatzbereichen aufgrund unzureichender Kerbschlagarbeitswerte allerdings oftmals nicht möglich. Dabei sind die niedrigen Messwerte im Wesentlichen auf die äußerst komplexe Beanspruchungssituation während des Versuchs zurückzuführen. Zum Beispiel wird die Probe mit einer hohen Dehnrate in einer Größenordnung von 102 - 103 s-1 belastet [2], während gleichzeitig ein komplexer Spannungszustand herrscht. Selbst bei dynamisch belasteten Fahrzeugkomponenten sind die im Crash-Fall auftretenden Dehnraten (1 - 200 s-1) oftmals mindestens um einen Faktor 5 kleiner als im Kerbschlagbiegeversuch [3]. Anhand der Standardmesswerte kann somit keine Aussage über das Bauteilverhalten im konkreten Einsatzszenario getroffen werden. In solchen Fällen ist eine Werkstoffqualifizierung meist nur über den Umweg individueller Qualifizierungsverfahren möglich, die beispielsweise auf bruchmechanischen Festigkeitsnachweisen wie FKM-Richtlinien beruhen, jedoch zeit- und kostenintensiv sind [4].
Als Grund für die deutlich höhere Übergangstemperatur „ductile-to-brittle transition temperature“ (DBTT) im Kerbschlagbiegeversuch, die in den vorliegenden Untersuchungen durch Halbierung der jeweiligen Hochlagenenergie bestimmt wurde, wird zum einen die ausgeprägte Dehnratensensitivität von GJS-Werkstoffen vermutet, die eine zunehmende Verfestigung des Werkstoffes mit steigender Dehnrate beschreibt (Bild 2) [5].
Zum anderen hat auch der in der jeweiligen Probe herrschende lokale Spannungszustand wesentlichen Einfluss auf das Bruchverhalten.
Der in der Probe herrschende Spannungszustand wird durch die Kerbschärfe, die Kerbtiefe der Probe sowie die Probendicke und -breite beeinflusst [6]. Der lokale Spannungszustand wird üblicherweise durch zwei dimensionslose Kennzahlen vollständig beschrieben [7]:
- die Spannungsmehrachsigkeit als Verhältnis aus hydrostatischer und Vergleichsspannung,
- der normierte Lode-Winkel-Parameter, der auf der zweiten und dritten Invarianten des deviatorischen Spannungstensors beruht.
Numerische Methoden wie die Nutzung von schädigungsmechanischen Simulationsmodellen zur Beschreibung des Zähigkeitsverhaltens, können Abhilfe schaffen, um das Versagen des Werkstoffs nicht nur in spezifischen Beanspruchungssituationen (einzelne Kombinationen aus Temperatur, Dehnrate und lokalem Spannungszustand), sondern durch Interpolationen auch darüber hinaus treffend abzubilden.
Die bisherigen Untersuchungen legen nahe, dass keine quantitative Korrelation zwischen der realen Bauteilbelastung und dem
Werkstoffverhalten im Kerbschlagbiegeversuch generiert werden kann, weshalb in vielen Fällen keine Information über das Bauteilverhalten im konkreten Einsatzfall vorliegt. Dies führt zu einer Unterschätzung des Zähigkeits-Potenzials des Werkstoffs GJS im spezifischen Anwendungsfall. Die positiven Eigenschaften, insbesondere im Hinblick auf das Leichtbaupotenzial, können in industriellen Anwendungen somit nicht genutzt werden. Erst ein detailliertes Wissen über die anwendungsspezifischen Bedingungen kann eine effektive Bauteilauslegung ermöglichen, die das Potenzial des Werkstoffs voll ausschöpft.
Ziel des hier vorgestellten Forschungsprojektes war es, anhand umfassender experimenteller Untersuchungen ein schädigungsmechanisches Modell für den Werkstoff EN-GJS-500-14 zu kalibrieren, um die Zähigkeitseigenschaften unter spezifischer Belastung möglichst effizient zu beschreiben. Dazu wurden zunächst umfassende experimentelle Untersuchungen zur Charakterisierung der Abhängigkeit des Versagensverhaltens von der Temperatur, der Dehnrate und dem lokalen Spannungszustand durchgeführt, die im Folgenden erläutert werden.
Methoden
Zur experimentellen Untersuchung der Einflüsse durch Temperatur, Dehnrate und Spannungszustand wurden für drei verschiedene GJS-Werkstoffe, die mit einem Silizium (Si)-Zielgehalt von 2,1, 3,0 und 3,8 Gew.-% (entsprechend EN-GJS-500-14) eingestellt wurden (Tabelle 1, Bild 3), Gießversuche mit einem Gesamt-Gussgewicht von jeweils ca. 290 kg durchgeführt.
Tabelle 1: Chemische Zusammensetzung der untersuchten Legierungen (Gehalte in Gew.-%; * ermittelt durch thermische Analyse).
Bezeichnung | C* | Si | Mg | Mn | P | S | Cr | Ni | CE |
2,10 Si | 3,69 | 2,10 | 0,050 | 0,09 | 0,001 | 0,006 | 0,02 | 0,17 | 4,40 |
3,03 Si | 3,19 | 3,03 | 0,038 | 0,18 | 0,001 | 0,005 | 0,05 | 0,03 | 4,20 |
3,64 Si | 2,96 | 3,64 | 0,040 | 0,15 | 0,001 | 0,001 | 0,05 | 0,02 | 4,18 |
Für zusätzliche Tests zur Kalibrierung des schädigungsmechanischen Modells wurden mit dem Werkstoff EN-GJS-500-14 weitere Proben gegossen. Für eine reproduzierbare Einstellung der chemischen Zusammensetzung wurde zunächst Kreislaufmaterial einer Charge EN-GJS-400-15 der Fa. FONDIUM Mettmann GmbH, Reineisen und Ferrosilizium (FeSi) in einem Mittelfrequenzinduktionsofen chargiert und auf 1400 °C erhitzt. Nach dem Halten der Schmelze bei ca. 1530 °C für 5 min wurde die Magnesiumbehandlung durchgeführt. Dazu wurden 1,4 Gew.-% der Mg-Vorlegierung VL63O zusammen mit 2,75 Gew.-% eines niedriglegierten Stahlschrotts auf dem Boden einer auf ca. 900 °C vorgewärmten Behandlungs- und Gießpfanne platziert und die Schmelze im Übergießverfahren behandelt. Nach Abschluss der Mg-
Reaktion wurde eine Pfannenimpfung mit 0,3 Gew.-% SMW605 durchgeführt. Unmittelbar danach erfolgte das Gießen der Proben für die thermische Analyse und die Funkenspektrometrie. Die 120 bzw. 220 mm langen YII-Standardkeilproben nach DIN EN 1563 wurden schließlich in furanharzgebundenen Quarzsandformen bei einer Gießtemperatur von ca. 1360 °C gegossen.
Um das Versagensverhalten des Werkstoffs zu charakterisieren, wurden den YII-Proben verschiedene Probegeometrien (Bild 4) entnommen, um die folgenden experimentellen Untersuchungen durchzuführen, die als empirische Basis für die anschließende numerische Parameterstudie dienten:
- Kerbschlagbiege- (Charpy-V-) und Bruchmechanik- (SENB „Single-Edge Notched Bending)-Versuche zur Ermittlung der Zähigkeitseigenschaften,
- Hochgeschwindigkeitszugversuche bei Raumtemperatur mit Dehnraten von 1, 100 und 250 s-1 zur Untersuchung der Dehnratensensitivität,
- Quasistatische, einachsige Zugversuche im Temperaturbereich von -40 bis 300 °C zur Untersuchung der Temperaturabhängigkeit,
- Werkstoffprüfungen unter quasistatischen Bedingungen an verschiedenen Probengeometrien (z.B. Scher- und plane strain-Versuche)
- Schlagzugversuche zur Untersuchung des Zähigkeitsverhaltens unter variablen Spannungszuständen,
- Rasterelektronenmikroskopische Bruchflächenanalysen an bis zum Bruch getesteten Proben.
Kalibrierung des numerischen Modells
Zum Einsatz kam ein phänomenologisches Plastizitätsmodell (Gleichungen 1-8) [7, 8], zusammen mit einem kombinierten ungekoppelten Spröd-Duktil-Kriterium (Gleichungen 9-12) [9-11]. Das vollständig kalibrierte Modell soll in der Lage sein, das Zähigkeitsverhalten des untersuchten Werkstoffs vorherzusagen. Aus diesem Grund wurden die Einflüsse der Dehnung (Gleichung 2), der Temperatur (Gleichung 3), der Dehnrate (Gleichung 4) und des Spannungszustands (Gleichungen 5-7) in den Simulationen berücksichtigt:
Mit:
σyld: Fließspannung in MPa,
ε-P: äquivalente plastische Dehnung,
T: Temperatur in K,
ε-.P: Dehnrate in s-1,
η: dimensionslose Größe zur Beschreibung der Spannungsmehrachsigkeit,
θ-: normalisierter Lodenwinkelparameter,
alle cji und m: zu kalibrierende Materialkonstanten.
Das in Gleichung 6 angegebene γ dient der Integration des Lodewinkelparameters in die Fließfunktion.
Aufgrund der hohen Dehnraten im Kerbschlagbiegeversuch herrschen adiabatische Randbedingungen, d.h. die durch die Verformungsenergie generierte Wärme kann während des Versuchs nicht an die Umgebung abgeführt werden. Die daraus resultierende Erwärmung der Probe führt zur thermischen Entfestigung des Werkstoffs und kann mithilfe von Gleichung 8 beschrieben werden:
Mit:
Ṫ: Aufheizrate,
δ/: Wärmeanteilskoeffizient (hier: 0,9),
ρ: Werkstoffdichte
cp : spezifische Wärmekapazität (hier: 490 J / kg*K)
Das Bruchverhalten wurde durch eine Kombination des verallgemeinerten Orowan-Sprödbruchmodells [11] und des Duktilbruchkriteriums des Bai-Wierzbiki-Modells [12] beschrieben (Gleichungen 9-11).
Der obere Teil von Gleichung 9 steht dabei für das spröde Versagen. Dazu muss zunächst ein gewisser Anteil mikroplastischer Verformung erreicht werden (εbf). Sobald dies geschehen ist und gleichzeitig die Hauptnormalspannung lokal den kritischen Spannungswert zur Spaltbruchauslösung σc überschreitet, versagt das betreffende Element der FEM-Rechnung im Spaltbruch. Dies geschieht so lange, bis schließlich bei εdf der duktile Bruchmechanismus ausgelöst wird. Im unteren Teil der Gleichung ist der duktile Pfad beschrieben. Mit Beginn der plastischen Verformung wird auch die duktile Schädigungsevolution ausgelöst. Diese entwickelt sich so lange, bis es in Abhängigkeit vom Spannungszustand bei εdf zum Versagen des Elements kommt.
Die vollständigen spröden und duktilen Bruchmechanismen wurden bei -40 °C und 100 °C für quasistatische Belastungsbedingungen, bzw. bei -100 °C und 100 °C für dynamische Belastungsbedingungen, beobachtet und kalibriert. Da in Gusseisen Hohlräume und Mikrorisse vorhanden sind und die Grafitablösung von der Matrix bereits im elastischen Verformungsbereich einsetzt [13], sind die Ergebnisse der Bruchdehnung in diesem Material sowohl für den Spröd- als auch für den Zähbruch bei allen Temperaturen gestreut. Um dies zu berücksichtigen, wird eine Drei-Parameter-Weibull-Verteilung [11] verwendet, die die Streuung der Bruchdehnung beschreibt:
Hierbei ist εup der Skalierungsparameter der plastischen Vergleichsdehnung, der der Sprödbruchdehnung εb/df, bei der die Bruchwahrscheinlichkeit (Pf) 63,2 % erreicht, entspricht. Der Faktor εmin entspricht dem Schwellenwert der Dehnung zur Auslösung eines Risses, der hier mit 0 angesetzt wird. Das bedeutet, dass der Bruch im Extremfall auch ohne plastische Verformung erfolgen kann. Der Parameter m der Weibull-Verteilung beschreibt die Form der Kurve.
Für die Kalibrierung der vorgenannten Modelle sind die Spannungs- und Dehnungswerte während des Verformungsprozesses von Bedeutung. In diesem Zusammenhang wurden parallele Simulationen der experimentellen Tests mithilfe des Programms Abaqus-Explicit zusammen mit einer benutzerdefinierten VUMAT-Subroutine durchgeführt. Für alle FEM-Modelle wurden dreidimensionale 8-Knoten-Volumenelemente mit reduzierter Integration (C3D8R) verwendet. Die Netzgröße betrug 0,1 mm für den kritischen Bereich, während im übrigen Teil des Modells eine gröbere Vernetzung verwendet wurde. Die Modelle wurden durch wiederholte Vergleiche von experimentellen und numerischen Daten kalibriert, um die geringste Abweichung zu erreichen. Zu diesem Zweck wurden für quasistatische Belastungsbedingungen Kraft-Weg-Schriebe und für dynamische Belastungsbedingungen die Dicke der Probekörper am Versagenspunkt verwendet.
Ergebnisse
Zähigkeitseigenschaften
Bild 5 zeigt die in Bruchmechanik (BM)- und Kerbschlagbiege (KSBV)-Versuchen ermittelten Übergangskurven für die drei untersuchten GJS-Werkstoffe.
Die Übergangstemperatur DBTT wurde jeweils durch Halbierung der in der Hochlage ermittelten Energiewerte bestimmt. Unabhängig vom betrachteten Werkstoff beträgt die Differenz der Übergangstemperaturen (ΔDBTT) aus KSBV und BM zwischen 100 und 140 K, was auf den Einfluss der Dehnrate und des Spannungszustandes in der Probe zurückzuführen ist. Im Vergleich zu konventionellen Stahllegierungen liegt die ΔDBTT aus Kerbschlagbiegeversuch und Bruchmechanik allerdings um etwa 70 bis 100 K höher [14]. Die Ursache für diese signifikante Übergangstemperaturdifferenz wird u.a. in der eingangs beschriebenen ausgeprägten Dehnratensensitivität von GJS vermutet. Zusätzliche Hochgeschwindigkeitszugversuche an den genannten Legierungen sollten diese Hypothese überprüfen.
Dehnratensensitivität
Um die Dehnratensensitivität der eingestellten GJS-Werkstoffe zu analysieren, wurden neben quasistatischen auch dynamische Zugversuche bei Dehnraten von 1, 100 und 250 s-1 durchgeführt. Die in Bild 6 dargestellten Ergebnissen verdeutlichen, dass die Dehnratensensitivität (DRS) als Verhältnis der Dehngrenze Rp0,2 bei dynamischer Prüfung und Rp0,2 bei quasistatischer Belastung mit steigender Dehnrate, und insbesondere ab einer Dehnrate von 250 s-1, auf bis zu 55 % zunimmt. Die DRS der Variante 2,10 Si liegt dabei im gesamten Dehnratenbereich insgesamt auf einem höheren Niveau.
Metallphysikalisch lässt sich dieses Phänomen mit dem in der Legierung 2,10 Si erhöhten Perlitgehalt und einer geringeren Grafitkugelzahl begründen. Die Verfestigung infolge einer höheren Dehnrate ist in der Bewegung einer Vielzahl von Versetzungen und deren Aufstau an entsprechenden Barrieren in der Mikrostruktur begründet [15]. Entsprechend führen hohe Perlitgehalte sowie größere Grafitausscheidungen zu einer stärkeren Verfestigung des Werkstoffs. Die Zunahme der Zugfestigkeit Rm liegt im Vergleich zur DRS insgesamt auf einem geringeren Niveau. Mit steigendem Si-Gehalt und erhöhter Dehnrate kann jedoch eine zunehmende Verfestigung festgestellt werden. Gerade für Werkstoffe mit erhöhtem Si-Gehalt können während der Beanspruchung auftretende Verfestigungseffekte bereits bei der Bauteilauslegung berücksichtigt werden, um eine effiziente Ausschöpfung des Verfestigungspotenzials zu ermöglichen.
Einfluss des Spannungszustandes
Um den Einfluss des Spannungszustandes auf das Übergangsverhalten von EN-GJS-500-14 zu untersuchen, wurde der sogenannte Schlagzugversuch erstmalig zur Charakterisierung der Zähigkeitseigenschaften von GJS angewendet [16]. Dieser stammt ursprünglich aus der Kunststoffprüfung, ist nach DIN EN ISO 13802 genormt und basiert wie der Kerbschlagbiegeversuch auf einem konventionellen Pendelschlagwerk [17]. Insgesamt wurden für den Werkstoff EN-GJS-500-14 fünf verschiedene Probengeometrien (vgl. Bild 4e) analysiert, die sich in ihrer Spannungsmehrachsigkeit η und damit in ihrem lokalen Spannungszustand unterscheiden.
Die Ergebnisse zeigen einen deutlichen Einfluss der Spannungsmehrachsigkeit auf das in Form der normierten, absorbierten Energie dargestellte Übergangsverhaltens des Werkstoffs (Bild 7).
Mit der im KSBV geprüften Charpy-V-Probe wird bei etwa 60 °C die höchste DBTT beobachtet. Sogar bei Schlagzugprüfung einer V-gekerbten Probe, die zusätzlich mit einem erodierten Anriss versehen wurde (η=0,51), fällt die DBTT mit etwa 0 °C deutlich geringer aus. In U-gekerbten Schlagzugproben kann zudem kein energetischer Übergangsbereich im untersuchten Temperaturbereich ermittelt werden, während dennoch unterschiedliche Bruchmechanismen zu beobachten sind. Die vorliegenden Resultate legen nahe, dass der lokale Spannungszustand neben der bereits beschriebenen Dehnratensensitivität einen erheblichen Einfluss auf das Zähigkeitsverhalten besitzt und somit zwingend mitbetrachtet werden muss. Eine Unterschätzung des Zähigkeitspotenzials von GJS-Werkstoffen durch Prüfung im Kerbschlagbiegeversuch liegt somit nahe. Mit dem Schlagzugversuch steht eine gleichermaßen kostengünstige und einfache Alternative zur Verfügung, um die Zähigkeitseigenschaften von GJS beanspruchungsgerecht und effizient zu prüfen. Nachfolgende, aktuell beantragte Forschungsarbeiten haben zum Ziel, die Zähigkeitseigenschaften eines breiten Spektrums an GJS-Werkstoffen mithilfe des Schlagzugversuchs systematisch zu untersuchen.
Kalibrierung des numerischen Modells
Neben den Daten zur Abhängigkeit von der Dehnrate und dem lokalen Spannungszustand muss zur Kalibrierung des Modells der Einfluss der Temperatur berücksichtigt werden. Dazu wurden quasistatische Zugversuche bei Temperaturen von -40 bis 300 °C durchgeführt (Bild 8).
Es ist zu erkennen, dass das Spannungsniveau mit steigender Prüftemperatur abnimmt. Bei Temperaturen über 200 °C ist in den Fließkurven ein gezackter Kurvenverlauf zu beobachten. Dies ist auf das Phänomen der dynamischen Reckalterung („dynamic strain ageing“) zurückzuführen, bei dem eine erhöhte Diffusion der Kohlenstoffatome zu einer nicht-monotonen Versetzungsbewegung führt [18]. Die Bruchflächen dieser Proben wurden im Rasterelektronenmikroskop (REM) analysiert, um den Anteil an duktilem Bruch zu bestimmen (vgl. Bild 8). Es zeigt sich, dass der Gleitbruchanteil bei -40 °C 6,3 % beträgt und auf 100 % bei einer Temperatur von 100 °C ansteigt. Das Plastizitätsmodell wurde anhand verschiedener experimenteller Versuche sowie dazugehöriger Simulationen kalibriert, um die Auswirkungen von Verfestigung (Bild 9), Temperatur (vgl. Bild 8), Dehnrate (Bild 10) und Spannungszustand (Bild 11) zu untersuchen.
Die kalibrierten Modellparameter sind in Tabelle 2 aufgeführt.
Bruchmechanismus
Die Validierung des Modells wurde für quasistatische Bedingungen auf der Grundlage von Kraft-Weg-Kurven durchgeführt (Bild 12).
Für dynamische Bedingungen erfolgte die Validierung auf der Grundlage der Probendicke nach Bruch (Bild 13).
Die ermittelten plastischen Vergleichsdehnungen beim Bruch wurden im Raum der äquivalenten plastischen Dehnungen, der Spannungsmehrachsigkeit und des normalisierten Lodenwinkelparameters eingezeichnet. Durch die Methode des kleinsten Fehlerquadrats wurden die Parameter der Funktionen aus den Gleichungen 10 und 11 bestimmt.
Sprödes und duktiles Versagen ist in Bild 14 dargestellt.
Für quasistatische Bedingungen wurden die Bruchstellen bei einer Bruchwahrscheinlichkeit von 63,2 % aufgetragen, während für dynamische Tests die Daten nicht ausreichten, um die Weibull-Wahrscheinlichkeitsverteilung zu berücksichtigen. Wie aus Bild 14 hervorgeht, sind die plastischen Vergleichsdehnungen beim Bruch unter dynamischen Bedingungen deutlich geringer als unter quasistatischen Bedingungen. Außerdem sind die Bruchdehnungen bei hoher Spannungsmehrachsigkeit unter allen Bedingungen eher niedrig. Durch die Berücksichtigung von experimentellen Tests unter dynamischer Belastung und hoher Spannungsmehrachsigkeit konnte eine gute Vorhersage des Werkstoffverhaltens in Kerbschlagbiegeversuchen erzielt werden (Bild 15).
Zusammenfassung
Das reale Zähigkeitsverhalten gegossener Bauteile aus EN-GJS wird durch den Kerbschlagbiegeversuch unterschätzt. Ziel des Vorhabens war die Untersuchung der Dehnraten-Sensitivität der GJS-Werkstoffe.
Die im Rahmen des Forschungsprojekts „Schädigungsmechanik GJS“ generierten experimentellen und numerischen Ergebnisse zeigen, dass das Werkstoffverhalten von GJS empfindlich auf die äußere Beanspruchung, insbesondere die Dehnrate und den lokalen Spannungszustand, reagiert. Numerische Methoden wie das hier kalibrierte schädigungsmechanische Modell können zudem herangezogen werden, um das Werkstoffverhalten unter spezifischer Beanspruchung zutreffend zu beschreiben. Das hier gewonnene Wissen um die Dehnratensensitivität kann zum einen genutzt werden, um das Verfestigungspotenzial von GJS-Werkstoffen effizient auszunutzen und bereits in Bauteilauslegungsverfahren zu berücksichtigen und so Leichtbaukonzepte voranzutreiben. Zum anderen legen die Resultate nahe, dass alternative Zähigkeits-Prüfverfahren wie der vorgestellte Schlagzugversuch eine deutlich bauteilnähere, beanspruchungsgerechtere und somit effizientere Prüfung der Zähigkeit erlauben. Aktuell geplante, systematische Folge-Untersuchungen sollen sich daher auf eine alternative Zähigkeitsprüfung im Schlagzugversuch fokussieren und haben zum Ziel, das Zähigkeitspotenzial von GJS-Werkstoffen voll auszuschöpfen.
Die Autoren danken herzlich den Mitgliedern des projektbegleitenden Ausschusses sowie den studentischen und technischen Mitarbeitenden am Gießerei-Institut und am Institut für Eisenhüttenkunde der RWTH Aachen. Ein herzlicher Dank gilt außerdem der FONDIUM Mettmann GmbH und der Quarzwerke GmbH für die Bereitstellung der Einsatzmaterialien. Die ermittelten Ergebnisse wurden im Rahmen des IGF-Forschungsvorhabens 20290 N der Forschungsvereinigung Gießereitechnik (FVG) gewonnen, welches über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) von Bundesministerium für Wirtschaft und Energie aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert wurde.
Weitere Informationen:
Gießerei-Institut der RWTH Aachen
Prof. Dr.-Ing. Andreas Bührig-Polaczek
Intzestraße 5
52072 Aachen
E-Mail: sekretariat(at)gi.rwth-aachen.de
www.gi.rwth-aachen.de
Institut für Eisenhüttenkunde der RWTH Aachen
Lehr- und Forschungsgebiet für Werkstoff- und Bauteilintegrität
Univ. Prof. Dr.-Ing. Sebastian Münstermann
Intzestraße 1
52072 Aachen
muenstermann@iehk.rwth-aachen.de
www.iehk.rwth-aachen.de
Literatur:
[1] Deutsches Institut Für Normung: DIN EN 10045: Metallische Werkstoffe – Kerbschlagbiegeversuch nach Charpy – Teil 1: Prüfverfahren, 1990.
[2] Transactions of the JSME 83 (2017), [Nr. 851]; pp. 16-0045.
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[5] Giesserei 102 (2015), [Nr. 05], S. 30-37.
[6] M. Könemann. Zähigkeit von kaltumformbarem Stahlfeinblech. RWTH Aachen, 2021.
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[18] Materials Science and Engineering: A 677 (2016), [Nr. 11], S. 290-301.